Nutzerorientierung Industrial Usability Day 2016: Reindenken in die Zielgruppe
Usability ist ein Querschnittsthema, da waren sich die Experten auf dem Industrial Usability Day 2016 in Würzburg einig. Neben Fachkenntnissen ist vor allem eine gute Menschenkenntnis gefragt.

Die Dinge einfacher machen – dafür sind in den zunehmend komplexen Prozessen der Industrie bekanntlich erstmal Fachkenntnisse gefragt. Doch ohne viel Mühe und eine gehörige Portion Menschenkenntnis klappt es oft trotzdem nicht, darüber waren sich zumindest die Experten auf dem „Industrial Usability Day 2016“ von elektrotechnik im VCC Würzburg Ende Mai einig. Einen Tag lang standen bei über hundert Referenten, Ausstellern und Teilnehmern die Benutzer im Umfeld von Maschinen und Anlagen im Fokus. Moderator Bernd Weinig, elektrotechnik Publisher bei Vogel Business Media, verknüpfte dabei die unterschiedlichen Perspektiven auf die Kernthemen rund um User Experience (UX) und Usability.
Dass es dabei längst nicht mehr nur um intuitive Bedienoberflächen geht, machte bereits Keynote-Sprecher Stefan Lehnert von Bosch Rexroth deutlich, der sich in seinem Vortrag mit der „User Experience als Schlüsselfaktor für begeisterte Kunden“ beschäftigte. Bei Bosch gebe es dafür klare Vorgaben an die Entwicklung. „Besonders viel Mühe macht es zu überlegen, wie das Produkt letztlich wirklich eingesetzt wird“, so der Ingenieur. Den sogenannten „Context of Use“ zu verstehen, sei enorm wichtig. Was sind die Hauptaufgaben, welche Extrem-Anwendungen kommen in Frage. Und wer ist überhaupt die Zielgruppe? Das kristallisierte sich im Laufe der Fachtagung für die meisten zur Kernfrage für Usability und UX heraus.Weiß das Team, für wen genau es etwa ein neues Hydraulik-Aggregat oder einen Online-Konfigurator entwickelt?
User Journey: Reise zur Zielgruppe
Hilfreich ist laut Lehnert die Technik der sogenannten User Journey, einer konzeptionellen Reise entlang der Wertschöpfungskette – vor und während der Benutzung, und zwar aus dem Blickwinkel des Anwenders. Bosch Rexroth arbeitet beispielsweise auch mit sogenannten Personas, einer Art Steckbrief, die den späteren Nutzer-Typus für den Entwickler charakteristisch und menschelnd skizziert.
M&M Software hat ebenfalls Personas kreiiert für die Entwicklung eines Engineering-Tools zur Konfiguration von Hardware-Lösungen und eines mobilen Cloud Frontends. Für das Projektteam war nicht nur wichtig, die Zielgruppe zu kennen. „Wir haben mit Personas und Storyboards auch gearbeitet, um den Workflow zu definieren“, erklärte Thomas Neumann die Herangehensweise, die Anwendung genau auf die späteren Anforderungen in den Arbeitsabläufen abzustimmen. Eine weitere Säule des Projekts war die Entwicklung von Style Guides und Usability-Tests, in denen etwa die Gefühle der Anwender mit Hilfe eines Eye Trackers erfasst werden.
Jan Groenefeld von Ergo Design wiederum machte in seinem Vortrag am Beispiel seines Kunden Grob deutlich, wie viel Wandlungsfähigkeit und Flexibilität in der Produktion mit einer guten Benutzerführung einhergehen kann. Bei Grob stellt ein Palettenspeicher die automatisierte Versorgung einer Werkzeugmaschine mit Rohteilen sicher. Das System kann mit einem flexiblen Raumkonzept verschiedene Aufträge koordinieren, ressourceneffizienter und unbemannt arbeiten - sorgt aber auch für eine höhere Komplexität. Ziel einer neuen Bedienführung von Ergo Design war, mehr Transparenz für den Arbeiter zu schaffen und die Usability zu erhöhen.
Groenefeld spannte mit seinem Best Practice den Bogen zwischen ganz praktischen Überlegungen und Markttrends als gedanklichen Überbau. So sieht er etwa ganz grundsätzlich drei Einfluss-Faktoren auf Industrie-4.0-Bediener: den Einfluss der Konsumwelt, eine höhere Komplexität und ein De-Skilling, also der fehlenden Anforderung, Neues zu lernen.
Humanwissenschaft: Ohne Psychologie klappt kein Usability Engineering
Für viel Gesprächsstoff auch in den Pausen sorgte Dr. Elke Maria Deubzer von PMO Usability Engineering, die Aspekte aus der ihren Kompetenzen Psychologie, Soziologie, Ergonomie und Anthropologie einbrachte: „Unsere Grundlagen sind nicht Design- und Ingenieurwissenschaften, sondern Humanwissenschaften.“ Basis für Usability, das seien schließlich Felder wie etwa Kognition, Emotion und Fragen unserer Handlungsplanung.
Deubzer erhielt bereits 2003 mit ihrem Unternehmen die ersten Usability-Engineering-Aufträge von Maschinen- und Anlagenbauern wie Krones, Rittal oder Bernecker + Rainer, lange bevor diese Notwendigkeit Usability hieß.
Typische Usability-Maßnahmen in der frühen Produktentwicklungsphase sind für Deubzer Nutzer-Aufgaben-Kontext-Analysen (NAK) und Input-Studien, die genau ausloten, welche Anforderungen vor Ort herrschen. Für einen Spannungsregler der Maschinenfabrik Rheinhausen seien dafür beispielsweise kleine interdisziplinäre Teams aus Usability-Experten, Entwickler und Ingenieur weltweit losgezogen. „Interdisziplinär deshalb, weil die Schwierigkeit nicht die Mensch-Maschine-, sondern die Mensch-Mensch-Schnittstelle ist“, so Deubzner. Da hapert es oft schon an Begrifflichkeiten.
Die Teams haben zielgerichtet die Nutzergruppen Kaufentscheider, Monteure, Inbetriebnehmer und Wartungstechniker bei der Arbeit beobachtet und auch befragt. Jeder habe eine andere Perspektive, jeder wolle andere Features. Zudem herrschen weltweit überall andere Bedingungen. „Allein die Wartungstechniker und Operator streuen weltweit enorm, von 26 bis 70 Jahren. In den USA werden 70-Jährige aus der Rente zurück auf die Substation geholt wegen des Fachkräftemangels.“ Da ließe sich nicht von dem einen Benutzer-Typus für den Spannungsregler sprechen. Schwierig sei deshalb auch die Inbetriebnahme, im Fall des Spannungsreglers sei häufig etwas kaputtgegangen. Vielleicht kann das eingesetzte Personal gar nicht lesen?
All diese Faktoren fließen laut Deubzer ins Usability Engineering ein. Warum der humanwissenschaftliche Ansatz dabei so wichtig ist, erklärte sie auch anhand einer Hardware-Konfiguration in einer integrierten Entwicklungsumgebung. Für Bernecker + Rainer Industrie-Elektronik, einem der größten privaten Anbieter von Automatisierungslösungen, sollte der Hardware-Katalog für die Kunden nutzerorientiert angeordnet werden. Was aber bedeutet das eigentlich? „Da geht es tief in die Psychologie: Eine Anordnung ist dann nutzerorientiert, wenn sie ein Abbild der Gedächtnisstruktur ist“, erklärt Deubzer. Und dafür brauche es semantische Ähnlichkeiten, etwa räumliche Nähe. „Wie im Supermarkt. Wenn wir Spaghetti suchen, haben wir eine Art Ersthypothese. Die basiert auf Inferenzprozessen, die über die Gedächtnisstruktur laufen. Wenn die nicht stimmen, fallen sie aus dem Automatikmodus raus und wir müssen das Überlegen anfangen.“ Dass wir Spaghettis in der Nähe von Tomatensauce suchen, kann jeder auf Anhieb nachvollziehen. Und dieser Mechanismus greift auch beim Stichwort Usability.
Die Untersuchungsfrage für Bernecker + Rainer lautete: „Wie sind die semantischen Ähnlichkeiten bei Applikationen von B&R-Produkten?“ Die Antworten führten weg von der klassischen Baumansicht gängiger Produktlisten hin zu einer graphischen Umsetzung. Der Hardware-Katalog ist nun als Toolbox dargestellt mit zusätzlichen Funktionen wie etwa Copy & Paste, Drag & Drop.
Industrial Usability Award: Ausgezeichnete Einfachheit
„Copy & Paste: Noch nie war Hardware konfigurieren einfacher“, für das so titulierte Projekt erhielten die Projektpartner Deubzer und Bernecker + Rainer auch den Industrial-Usability-Award. Er wurde dieses Jahr erstmals auf dem Industrial Usability Day verliehen. Eine Fachjury hatte unter den vielfältigen Einreichungen ausgewählt.
Ebenfalls ausgezeichnet wurde die Lösung „HMI_Design für Tablettenpressen bei der Korsch AG“ von CaderaDesign, bei der ebenfalls die Mensch-Mensch-Schnittstelle eins der wichtigen Usability-Kriterien war.
„Usability ist eine Sache zwischen den Menschen. Der Satz ist ganz entscheiden“, betonte auch Prof. Claus Oetter vom VDMA noch einmal in der Podiumsdiskussion. „Mein persönliches Anliegen ist, Usability mit einem entsprechenden Stellenwert in die Industrie zu bringen.“ Das Thema ist offenbar schon bei etlichen angekommen. „Wir merken, dass Usability bei unseren Kunden allmählich zum Entscheidungsfaktor wird“, meinte Fabian Elsässer vom Maschinenbauer Harro Höfliger Verpackungsmaschinen. Und für Clemens Lutsch von Centrigrade geht es bei UX nicht nur einfach nur darum, einen Lösung zu entwickeln: „Man muss mal ehrlich sein. Da spricht man eigentlich von einem Change Management.“ Und auch dabei ist bekanntlich viel Menschenkenntnis gefragt.
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