5 Experten zum Thema Künstliche Intelligenz Nachgefragt: Wo bleibt die Intelligenz in der Industrie?
Künstliche Intelligenz (KI) ist keine Zukunftsvision mehr, sondern längst Realität. Im Zuge der Digitalisierung wird Machine Learning und Deep Learning weiter an Bedeutung für die Industrie gewinnen, denn die Technologie soll für einen Wachstumsschub sorgen. Wir haben bei fünf Experten nachgefragt und erfahren, welche Einsatzszenarien für KI denkbar sind und an welchen KI-Projekten derzeit gearbeitet wird.
Anbieter zum Thema

Welche Einsatzszenarien sehen Sie für Machine Learning in einer Smart Factory?
Johannes Kalhoff: Mit Machine Learning und Deep Learning bestehen und entstehen Plattform-Technologien, die ihr Potenzial im Rahmen der Produktentstehung, der industriellen Produktion und der Produktverwendung bereitstellen. Neben den viel diskutierten Bereichen der Instandhaltung und des Service – Stichwort: Predictive Maintenance – werden die Fertigungsprozesse und Logistik durch KI optimiert, gesteuert und in ihrer Verfügbarkeit verbessert. Im Engineering ist ein hohes Potenzial zu erwarten. Das auf wissens- und erfahrungsbasierten Fähigkeiten beruhende Engineering wird durch KI in Qualität und Performance beeinflusst. Auch werden sich in der Interaktion der Beteiligten neue Formen der Zusammenarbeit sowie der automatisierten Unterstützung, z.B. durch Assistenten wie Siri, andere Arbeitsabläufe ergeben.
Benedikt Rauscher: Aufgrund der von einer Smart Factory geforderten Flexibilität müssen sich Automatisierungssysteme schnell an sich verändernde Anforderungen durch wechselnde Produkte anpassen lassen, was insbesondere dann schwierig ist, wenn Produkt-Eigenschaften nicht numerisch eindeutig erfasst und logisch formuliert werden können oder dazu zu großer Aufwand betrieben werden muss. Hier kann Machine Learning einen wichtigen Beitrag leisten, um aussagekräftige mathematische Modelle zu erstellen und diese zu optimieren. Auf deren Basis können Maschinen in der Smart Factory optimal eingestellt werden, ohne dass Probeläufe oder Einrichtphasen nötig sind.
Thorsten Schröer: KI-Systeme beziehungsweise Machine Learning können an verschiedenen Stellen im Produktionsprozess unterstützend eingesetzt werden: als intelligenter Assistent des Werkers an seinem Arbeitsplatz, im Rahmen der Steuerung Cyber-Physischer-Systeme oder in der vorausschauenden Wartung und Qualitätssicherung. Damit wird es möglich, zentrale Themen wie Produktivitäts- und Qualitätssteigerung sowie Fehlerminimierung, die bereits seit Jahrzehnten die produzierenden Unternehmen beschäftigen, neu zu bewerten und anzugehen. KI-basierte Systeme helfen aber nicht nur, Unternehmensabläufe und Fertigungsprozesse weiter zu automatisieren, sondern mit intelligenten Algorithmen auch vollkommen neue Produkte und Dienstleistungen sehr schnell zu entwickeln. Etwa damit Flugzeuge nicht nur automatisch ihre Systeme überwachen, sondern daraus Erkenntnisse für effizientere Triebwerke mit geringerem Kraftstoffverbrauch gewinnen können oder smarte Fabriken durch die kognitive Auswertung von Daten ihre Produktionsfehler früher erkennen. Und während klassische Maintenance-Software bisher nur die Analyse strukturierter Sensordaten zugelassen hat, gehen intelligente Wartungs-Anwendungen noch einen wesentlichen Schritt weiter: Dem Prinzip KI-basierter Systeme folgend, deren wesentliche Merkmale lernen – verstehen – bewerten sind, ist damit auch die Entwicklung „mitdenkender“, vorausschauender Wartung möglich. KI-basierte IIoT-Plattformen etwa kombinieren hierfür strukturierte Maschinendaten mit der Masse an unstrukturierten Informationen wie handschriftlichen Aufzeichnungen, Sprache, Geräusche, Vibrationen, Bilder, Videos und Bewegungen, analysieren und bewerten sie. Dazu gehören beispielsweise auch Drohnen-Aufnahmen über Industrieanlagen. So lassen sich unter anderem Schäden sehr viel schneller erkennen.
Rahman Jamal: Bei der Datenerfassung in industriellen Systemen wie Produktions- und Betriebsanlagen fallen z. T. Milliarden von Rohdaten pro Sekunde an. Bis 2020 sollen es industrielle Anlagen sogar auf 78 Exabytes schaffen. Diese Daten enthalten wertvolle Informationen, aber ihre Anzahl wächst so schnell, dass sie sich nicht mehr mit heutigem Fachwissen und herkömmlichen Werkzeugen beherrschen lässt. Sehr naheliegend ist der Bereich der vorausschauenden Wartung. Hier wird Machine Learning eingesetzt, um herauszufinden, wann eine Maschine gewartet werden muss. In der Validierung wiederum wird es genutzt, um zu ermitteln, welche Tests durchgeführt werden müssen. Das dritte Einsatzgebiet ist der Produktionstest, in dem festgestellt werden soll, wenn ein Produkt defekt ist. Auch wenn man beim Machine Learning üblicherweise an Algorithmen denkt, so beginnt der Prozess in einem Machine-Learning-System eigentlich schon bei der Datenerfassung – beim riesigen Berg von Big Analog Data. Maschinelles Lernen unterstützt den Anwender dabei herauszufinden, welche Dateninhalte wichtig sind und für die Umwandlung in nützliche Informationen gebraucht werden. Beim Thema Datenerfassung ist NI natürlich nicht weit. Durch die Offenheit von Labview lassen sich Daten mit jeglicher Art von Machine-Learning-Technologie verknüpfen. Zudem wurde kürzlich das LabView Analytics and Machine Learning Toolkit vorgestellt, das maschinelles Lernen direkt am Edge von Zustandsüberwachungsanwendungen für die vorausschauende Wartung erlaubt.
Jürgen Wirtgen: Wir möchten den menschlichen Einfallsreichtum mit intelligenter Technologie verstärken. Denn überall dort, wo Daten gesammelt werden, kann man mittels KI neues Wissen generieren. Angefangen bei der vorausschauenden Wartung, bei der mögliche Engpässe vorhergesagt und Lösungen automatisch eingeleitet werden. Ein Beispiel ist die Service-Lösung Max von Thyssenkrupp Elevator. Max sammelt auf Basis der Microsoft Azure IoT-Dienste in Echtzeit Daten der vernetzten Aufzüge und berechnet mit Algorithmen die verbleibende Lebensdauer wichtiger Systeme und Komponenten. Bei der Wartung sorgen dann Hololens und Skype für bis zu viermal kürzere Wartungszeiten. Was KI in der Industrie leisten kann, zeigt beispielsweise der Entwicklungsspezialist für die Automobil- und Luftfahrtindustrie Bertrandt: Gemeinsam mit Microsoft wurde die „Automotive Analytics and Development Platform“ entwickelt, mit der Fahrzeugdaten über Sensoren aufgezeichnet und über das Mobilfunknetz in Microsoft Azure gespeichert und ausgewertet werden. Mit der Lösung ist es möglich, Staus und Tempolimits zu erkennen und Straßenschäden zu lokalisieren. So können nachfolgende Fahrzeuge Tempo und Fahrwerksabstimmung automatisch anpassen.
Arbeiten Sie derzeit an KI-Projekten? Und: An welchen?
Johannes Kalhoff: Ja, und das bereits in verschiedenen konkreten Projekten. Der Einsatz von automatisierter und regelbasierter Wissensermittlung verwendet Phoenix Contact in eigenen Prozessen. Darüber hinaus bietet das Unternehmen Kommunikationsmittel zur Bereitstellung von Daten für KI-basierte Dienste auch über Produkte wie die Profi- cloud an.
Benedikt Rauscher: Auch Pepperl+Fuchs verwendet KI in mehreren Projekten, z.B. zur Mustererkennung in Multisensorsystemen.
Thorsten Schröer: Wir arbeiten an einer ganzen Reihe von KI-Projekten, auch im industriellen Umfeld – über die wenigstens können und dürfen wir allerdings sprechen. ABB etwa nutzt die künstliche Intelligenz von IBM Watson, um Fehler mit Hilfe von Echtzeit-Produktionsbildern zu finden, die von einem ABB-System erfasst und anschließend mit IBM Watson loT for Manufacturing analysiert werden. Während die Teile den Herstellungsprozess durchlaufen, macht die Lösung den Hersteller auf Mängel in der Montagequalität aufmerksam und ermöglicht so ein schnelles Eingreifen. Ganz aktuell kommt KI auch im Rotterdam Additive Manufacturing Lab (RAMLAB) zum Einsatz. Im Rotterdamer Hafen, der in den nächsten Jahren mit Hilfe von IBM zum smartesten Hafen der Welt werden soll, wird ein erstes 3D-Druck-Feldlabor für den Druck von Schiffskomponenten entstehen. KI-basierte IBM IoT-Technologien werden dabei in die Produktionsprozesse integriert.
Rahman Jamal: Nun, es sind eher unsere Kunden, die auf Basis unserer Plattform solche Projekte realisieren. Beispiele dafür gibt es in der Tat einige. Die Offenheit unsere Hard- und Softwareplattform gestattet solche Erweiterungen und Implementierungen im Hinblick auf Deep Learning. So gestatten etwa die Labview-basierten Softwarewerkzeuge von Cogito Instruments eine mühelose Integration in die Anwendung. Eine einfache API erlaubt es, Signale einer Kamera, eines Sensors oder über einen Host übertragene Daten innerhalb des Compact-Rio-Systems zu erfassen. Ebenso lassen sich damit Erkennungsmerkmale extrahieren sowie Daten in 256 Byte große Vektoren umwandeln und an das CI9120 senden. Zuerst für das Lernen: Anhand von Referenzvektoren, die von Referenzsignalen erstellt wurden, kann dem Neuron ein Vektor beigebracht werden, dem der Anwender dann außerdem eine Kategorie zuweisen kann. Somit weiß das Neuron, was es lernen soll. Mit Erlernen eines jeden neuen Vektors wird automatisch das Wissen der Neuronen vertieft. Dann für das Erkennen: Das Modul antwortet, ob es den Vektor erkannt hat oder nicht. Ist dies der Fall, gibt es die damit verbundene Kategorie des Vektors aus. Kommen mehrere Kategorien infrage, wird gemeldet, dass es unklar ist, ob ein Vektor wiedererkannt wurde. Hier kann überprüft werden, wie viele Neuronen im Erkennungsprozess einer jeden Kategorie beteiligt waren. Ebenso lässt sich eine Messung mit Distanz für jedes Neuron durchführen, wodurch es möglich ist, herauszufinden, welches das aussagekräftigste Ergebnis ist. Auf diese Weise können die Kriterien verfeinert werden – der Lernprozess findet noch während der Ausführung statt. Nach Abschluss der Lernphase und wenn das System alle übertragenen Vektoren erkennt, lässt sich das interne Wissen auf andere Systeme übertragen und somit replizieren.
Jürgen Wirtgen: Microsofts Vision ist es KI zu demokratisieren, also für jeden einfach nutzbar zu machen. Dementsprechend arbeiten hunderte von Microsoft-Forschern an neuen Verfahren und Algorithmen im Umfeld der künstlichen Intelligenz mit dem Ziel einfach zu nutzende Produkte zu entwickeln. So bieten wir auf Basis von Microsoft Azure z.B. Cognitive Services, Machine-Learning-Dienste und den Azure-Bot-Service an. Zu den Microsoft-Anwendungen, die selbst diese Services nutzen, gehört z.B. Seeing AI, eine Smartphone-App, die Menschen mit eingeschränkten visuellen Fähigkeiten die unmittelbare Umgebung erklärt und ihnen so die Teilhabe am Alltag erleichtert.
Welche Risiken sehen Sie beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz?
Johannes Kalhoff: Die Diskussion über Technologien und Trends ist vielschichtig. Neben ihrer konkreten Verwendung, dem eigentlichen Nutzen sowie weiterführenden Potenzialen werden ebenfalls Einsatzrisiken erörtert. Im Bereich der KI wird gerne ein Zeitpunkt angegeben, ab dem die Maschinen dem Menschen überlegen sind. Die Bandbreite der Antworten ist ebenso groß wie die erwarteten Folgen. Als sicher gilt schon heute, dass die KI in naher Zukunft sich wiederholende und auch komplexe Aufgaben – wie die Zusammenarbeit von Mensch und Roboter, autonomes Fahren oder Übersetzungstätigkeiten – bewältigen wird. Dies kann als Gefahr angesehen werden, aber zugleich Chance für neue Tätigkeitsfelder oder Geschäftsmodelle sein.
Benedikt Rauscher: Das Thema Künstliche Intelligenz ist ja nicht neu, es hat durch Industrie 4.0 und durch leistungsfähigere Hardware zusätzlichen Schub bekommen. Es besteht inzwischen die Gefahr, dass KI als „universaler Problemlöser“ auch auf Aufgaben angesetzt wird, für welche die Technologie keine nennenswerten Vorteile bringt.
Thorsten Schröer: Nicht, wenn wir verantwortungsvoll damit umgehen: Wir brauchen einen gemeinsamen Verhaltenskodex, wie wir mit den Daten arbeiten. Die Stichworte lauten Sensibilisierung, Wertevermittlung, Schulbildung, Ausbildung von Lehrern, Fortbildung und Bewusstsein schaffen für den verantwortungsvollen Umgang mit Daten. Daher haben wir uns als IBM auf drei ethische Grundsätze für die Entwicklung von künstlicher Intelligenz verpflichtet: Unterstützung des Menschen: KI-basierte Systeme wie IBM Watson werden entwickelt, um Menschen zu helfen, ihre täglichen Aufgaben besser zu bewältigen und nicht, um den Menschen zu ersetzen. Transparenz: Um Vertrauen in die Empfehlungen der KI zu haben, muss transparent sein, wie und mit welchen Daten sie arbeitet, wie sie trainiert wird und wie sie zu ihren Entscheidungen kommt. Skills: KI-Systeme müssen gemeinsam mit denjenigen Menschen entwickelt werden, die in ihren Branchen und Tätigkeiten jahrzehntelange Erfahrungen gesammelt haben und die von eben diesen KI-Systemen zukünftig auch profitieren sollen. Sie müssen zudem lernen, mit ihnen richtig umzugehen.
Rahman Jamal: Das Risiko, das mit KI einhergeht, ist der Kontrollverlust darüber, wie es zu bestimmten Entscheidungen kommt. Simples Beispiel: Wird Deep Learning etwa zum Korrigieren von Aufsätzen genutzt, lassen sich meist sehr gute Ergebnisse erzielen, die annähernd der menschlichen Leistung entsprechen. Man weiß allerdings nicht, wie es zu dieser Bewertung kam. Zwar wäre es möglich, mathematisch zu ermitteln, welche Knoten des komplexen neuronalen Netzes aktiviert wurden. Was aber die genaue Aufgabe der Neuronen war und vor allem, wie die einzelnen Neuronenschichten kollektiv handelten, erfahren wir nicht. Nun mag es vielleicht nicht ganz so tragisch sein, nicht zu wissen, warum ein Aufsatz wie bewertet wurde. Auch wenn Deep Learning etwa bei Amazon nicht funktioniert und dem Kunden beim Kauf eines Produkts falsche ergänzende Artikel vorgeschlagen werden, ist es eher weniger dramatisch. Anders aber z.B. bei der Kreditvergabe: Der Kunde hat durchaus ein Recht darauf zu erfahren, warum sein Antrag abgelehnt wird. Ferner stimmen die Prognosen heutiger Algorithmen Kritikern zufolge nur zu 90%, da eine Trefferquote von 100% schlicht nicht möglich ist. Auf gut Deutsch: 10% der Antragssteller wird aufgrund eines Systemfehlers kein Kredit gewährt. Dies kann durchaus existenzbedrohend sein. Noch schlimmer ist eine Fehlentscheidung aber bei Anwendungen wie ADAS-Systemen, denn da geht es um die körperliche Unversehrtheit. Trefferquoten von 90% sind hier schlichtweg inakzeptabel.
Jürgen Wirtgen: KI ist für alle Industrien und Individuen relevant und ermöglicht es auf eine Weise und in einer Schnelligkeit Datenmengen zu analysieren, zu interpretieren, Muster zu erkennen und Entscheidungsgrundlagen zu erstellen, auf die es Menschen ohne die Hilfe von Technologie nicht könnten. Wir sind uns gleichzeitig bewusst, dass die Vorteile – und die schnellen Veränderungen, die damit einhergehen – Fragen zur Ethik, Moral, Datenschutz und Sicherheit aufwerfen. Ich sehe weniger abstrakte Herausforderungen, sondern mehr konkrete Aufgaben, die wir beim Design intelligenter Maschinen zu lösen haben. KI ist ja nichts, was uns passiert, sondern etwas, das wir schaffen. Wir bei Microsoft haben ethische Prinzipien formuliert, die dabei beachtet werden müssen. Es braucht eine gemeinschaftliche Diskussion zwischen Unternehmen, Politik und Gesellschaft, um sicherzustellen, dass wir alle von den Vorteilen dieser Technologien bestmöglich profitieren, ohne einzelne Industrien, Gruppen oder Individuen zurücklassen.
(ID:45163934)