Die geheime Macht der Industrie 4.0: Wie die technische Systemdiagnostik den Erfolg neuer Technologien vorantreibt

Von Heino Brose* |

Anbieter zum Thema

Systemdiagnostik ist ein bislang wenig beachtetes Gebiet, das lediglich der Fehlersuche dient – so zumindest die etablierte Sichtweise. Jedoch hat sich die Systemdiagnostik längst gewandelt und deckt heute vielmehr zahlreiche Aufgaben über den gesamten Produktentstehungsprozess ab.

Die Systemdiagnostik ist die geheime Macht und der entscheidende Motor für eine erfolgreiche Umsetzung der Industrie 4.0.
Die Systemdiagnostik ist die geheime Macht und der entscheidende Motor für eine erfolgreiche Umsetzung der Industrie 4.0.
(Bild: shutterstock.com/@greenbutterfly)

Produktionsprozesse und Kapazitätsauslastungen werden stetig verbessert. Individuelle Kundenwünsche werden effizienter umgesetzt. Produktionskosten und Personalkosten werden reduziert. Wartungen, Inspektionen und Anlagenverbesserungen werden optimiert geplant und durchgeführt. Neue Geschäftsmodelle und neue Kundengruppen werden schneller erschlossen. Kunden, Partner und Lieferanten sind direkt in Geschäfts- und Wertschöpfungsprozesse eingebunden. Diese Ziele für die künftige Produktion sind Basis von Industrie 4.0.

Bei näherer Betrachtung geht es im Einzelnen um Vernetzung von Systemkomponenten, Digitalisierung von Prozessketten und Ermitteln und Analysieren von großen Datenmengen. Es ist daher zu erwarten, dass die Anzahl der Systemkomponenten und ihrer Funktionalitäten stark ansteigt. Zusätzlich wird sich die Vernetzung von verteilten Komponenten erhöhen. Und schließlich sind es nicht nur die Industrieanlagen selbst, sondern auch deren Anbindungen an vor- oder nachgelagerte technische Systeme, die zu steigender Komplexität führen.

Bildergalerie

Diese Komplexitätserhöhung hat Auswirkungen auf das Systemverhalten und fordert weitere Aufgaben in der Systementwicklung. So müssen z. B. neue, effizientere Strategien für Instandhaltung, Inspektion und Wartung entwickelt werden. Neue oder erweiterte Funktionalitäten für Software-, Daten- und Variantenmanagement sind notwendig. Die vorhandenen Sicherungs- und Schutzmaßnahmen müssen geprüft und angepasst werden.

Die Lösungen zu diesen Aufgaben liegen in einem bislang wenig beachteten Gebiet – dem der Systemdiagnostik.

Die Systemdiagnostik ist die geheime Macht und der entscheidende Motor für eine erfolgreiche Umsetzung der Industrie 4.0. Im Gegensatz zu ihrem Ansehen vor einigen Jahren wird sie heute oft ignoriert, belächelt, vergessen oder nicht wahrgenommen. Ist nicht so „sexy“ wie autonomes Fahren, Parkplatz-Apps, KI, Big Data, IoT oder Digitaler Zwilling.

Um die Systemdiagnostik wieder ins verdiente Blickfeld zu rücken, wagen wir die These: „Im Hintergrund der Industrie 4.0 macht die technische Systemdiagnostik Innovationen überhaupt erst möglich.“

Um die Systemdiagnostik wieder ins verdiente Blickfeld zu rücken, wagen wir die These: „Im Hintergrund der Industrie 4.0 macht die technische Systemdiagnostik Innovationen überhaupt erst möglich.“

Heino Brose, Geschäftsführer der Synostik GmbH

Die (Erfolgs-) Geschichte der Systemdiagnostik in der Fahrzeugindustrie

Seit der Jahrtausendwende steigt in der Fahrzeugentwicklung die Anzahl der Funktionen kontinuierlich an, und mit ihnen die Anzahl der beteiligten Teilkomponenten und deren Vernetzung untereinander.

Dies führte zu zwei Entwicklungen:

Zum einen erhöht sich die Anzahl der potenziellen Fehler. Nicht nur mit der Anzahl der Funktionen, sondern auch mit dem Grad ihrer Vernetzung, da hier zusätzliche Fehlerquellen lauern.

Zum anderen setzen sich Fehler von Teilkomponenten in diesen ständig komplexer werdenden Gesamtsystemen – oft schleichend und unbemerkt – über mehrere Funktionen fort. Über Fehlerspeichereinträge ist die eigentliche Ursache oft nicht mehr direkt zu identifizieren.

Im Ergebnis ist der Aufwand für Fehlersuche und -behebung deutlich angestiegen.

Um dem entgegenzuwirken haben einige Automotive Hersteller bereits 2005 für ihre Steuergeräte und deren Subsysteme Diagnoseobjekte, Diagnosekommunikation und Diagnosebeschreibungen standardisiert. Gleichzeitig wurden die Diagnosefunktionalitäten erweitert. Die Digitalisierung der Systemdiagnostik war geboren, dem durch Komplexitätserhöhung steigenden Analyseaufwand konnte somit gut entgegengewirkt werden.

Die technische Systemdiagnostik beinhaltet heute allgemein genommen alle Funktionalitäten, die ein technisches System nicht in seiner eigentlichen Funktion ausübt.

Was ist die technische Systemdiagnostik?

Vom Grundgedanken her wurde die Systemdiagnose entwickelt, um Fehleranalysen von technischen Systemen zu unterstützen. Ein technisches System lieferte im Fehlerfall einfache Fehlercodes oder Messwerte, die von einem Mechaniker unter Zuhilfenahme eines externen Systems ausgewertet wurden. Damit hatte sich die Meinung etabliert „Systemdiagnostik ist Fehlersuche“. Diese Sichtweise hält sich bis heute. Dabei hat sich die Systemdiagnostik in den letzten 20 Jahren stark gewandelt, insbesondere deckt sie heute zahlreiche Aufgaben über den gesamten Produktentstehungsprozess ab.

So definieren Fachexperten den Begriff der Systemdiagnostik heute entsprechend umfassend: „Systemdiagnostik ist die Lehre und Kunst, Zustände von Systemen strukturiert zu erfassen, einzustellen und zu beschreiben. Darunter werden alle Methoden, Algorithmen, Datenformate, Prozesse, Verfahren und Tools verstanden, deren Ziel die Entwicklung, Herstellung, Reparatur und Wartung einer elektronischen Komponente ist.

Jetzt Newsletter abonnieren

Verpassen Sie nicht unsere besten Inhalte

Mit Klick auf „Newsletter abonnieren“ erkläre ich mich mit der Verarbeitung und Nutzung meiner Daten gemäß Einwilligungserklärung (bitte aufklappen für Details) einverstanden und akzeptiere die Nutzungsbedingungen. Weitere Informationen finde ich in unserer Datenschutzerklärung.

Aufklappen für Details zu Ihrer Einwilligung

Die Anwendung der Systemdiagnostik umfasst das Konzeptionieren, Spezifizieren, Entwickeln, Testen und Produzieren sowie das Funktionieren, das Updaten, das Reparieren und das Warten des Systems.“

Die technische Systemdiagnostik beinhaltet damit heute allgemein genommen alle Funktionalitäten, die ein technisches System nicht in seiner eigentlichen Funktion ausübt.

Ein Beispiel

Teilsysteme einer modernen industriellen Nähmaschine.
Teilsysteme einer modernen industriellen Nähmaschine.
(Bild: Synostik GmbH)

Um im Geiste der industriellen Revolution zu bleiben, wird im Folgendem eine moderne Nähmaschine als Beispiel für ein Produktionssystem betrachtet. Dieses mag auf den ersten Blick trivial erscheinen, jedoch umfasst eine heute übliche Nähmaschine ein komplexes, mechatronisches Nähwerk, bestehend aus elektronischen Steuergeräten, Sensoren, Aktoren und Leitungen. Hinzu kommen Komfortelemente, wie Display und Over-the-air-Schnittstelle via WLAN. Wird die Garnachführung als Schnittstelle zu vorgelagerten Produktionsschritten interpretiert, kann die Nähmaschine als Ausschnitt eines Produktionssystems angesehen werden.

Ziele der technischen Systemdiagnostik

Die zentralen Fragestellungen der Systemdiagnostik lauten:

  • Wie können die Zeiten für Inbetriebnahme und Update verringert werden?
  • Wie können Fehler im System vermieden werden?
  • Wie kann die Systemzuverlässigkeit erhöht werden?
  • Wie kann die Bedien- und Instandhaltungsfreundlichkeit erhöht werden?
  • Wie können Wartungs- und Instandhaltungskosten verringert werden?
  • Wie können Kundendienst und Support vereinfacht und beschleunigt werden?
  • Wie kann die Kundenzufriedenheit erhöht werden?

Alle Entwicklungen im Bereich der Systemdiagnostik haben das Ziel, diese elementaren Fragen zu beantworten, zum Beispiel auch unser Produktionssystem „Nähmaschine“.

Grundsätzliche Module einer prädiktiven Diagnostik.
Grundsätzliche Module einer prädiktiven Diagnostik.
(Bild: Synostik GmbH)

Als Beispiel sei hier die „Prädiktive Diagnostik“ erwähnt. Sie ist in Bezug auf die Erreichung der Ziele der Systemdiagnostik eine starke Instandhaltungsstrategie. Sie vermeidet Fehler im System, erhöht die Systemzuverlässigkeit, Wartungskosten und Standzeiten werden reduziert. Kundenzufriedenheit wird gesteigert.

Der erhöhte Aufwand für die Analyse und Entwicklung der prädiktiven Diagnostik zahlt sich schnell aus.

Aufgaben der Systemdiagnostik

Die Anwendungsbereiche der Systemdiagnostik finden sich im gesamten Lebenszyklus eines technischen Systems.

Die wichtigsten Aufgaben der Systemdiagnostik.
Die wichtigsten Aufgaben der Systemdiagnostik.
(Bild: Synostik GmbH)

In der Phase der Produktentwicklung spielt die Systemdiagnostik eine große Rolle vor allem beim Testen und Updaten der Systeme.

Für das Produktionssystem „Nähmaschine“ können die Funktions-Algorithmen anhand eines digitalen Systemabbilds beschrieben und den einzelnen Komponenten zugeordnet werden, lange bevor ein physischer Prototyp gebaut wird. Diesen Funktions-Algorithmen können Test-Algorithmen zugeordnet und somit die Erprobung simuliert werden. Insbesondere die Schnittstelle „Garnnachführung“ kann beschrieben und so die Einpassung der Nähmaschine als „Black-Box“ im Gesamtsystem erprobt werden. Auf diese Weise können Fehlschläge in späten Phasen der Entwicklung vermieden und Entwicklungskosten und -risiken reduziert werden.

In der Phase der Herstellung des Produkts sind die bedeutendsten Anwendungsfälle Datenversorgung, Versionsverwaltung und Inbetriebnahme. In speziellen Fällen werden die Fehlersuche, die Geräteeinstellungen und die Qualitätssicherung des Produkts mit systemdiagnostischen Methoden durchgeführt.

Für das Beispiel „Nähmaschine“ heißt das, dass Algorithmen zur initialen Bedatung der jeweiligen Version automatisiert ablaufen und so den Produktionsaufwand verringern können. Gleiches gilt für Algorithmen zur Durchführung von Qualitätsprüfungen an einzelnen Komponenten, wie dem Nähwerk, oder zur Inbetriebnahme einer Nähmaschine im Produktionssystems des Endanwenders. Dies reduziert Herstellungskosten, gleichzeitig wird die Zufriedenheit des Anwenders erhöht.

In der anschließenden Phase von Verkauf und Vertrieb wird die Systemdiagnostik vor allem dazu verwendet, um das Produkt zu transportieren und spezielle Kundenfunktionen freizuschalten.

So kann beispielsweise zunächst eine Einsteigerversion der Nähmaschine ohne WLAN oder mit nur einer Schnittstelle zur Garnnachführung ausgeliefert werden. WLAN und/oder weitere Schnittstellen können nach Bedarf und gegen Gebühr freigeschaltet werden.

In der Anwendungsphase werden heute oft Monitoring-Funktionen aktiviert, um Daten für spezielle Analysen aufzuzeichnen, die dann für kommende Entwicklungen herangezogen werden können.

Beispielsweise können für die Nähmaschine Monitoring-Algorithmen hinterlegt werden, die ermitteln, bei welchen Umgebungsparametern, Garnarten und -stärken, etc. welche Fehler wie häufig auftreten. Daraus kann abgeleitet werden, ob beim Folgemodell beispielsweise mehr Wert auf die Abschirmung bestimmter Komponenten oder auf die Robustheit der Schnittstelle gelegt werden muss.

In der Phase des Kundendienstes sind die Hauptaufgaben der Systemdiagnostik Reparatur, Inspektion, Wartung, Funktionsupdates und nachträgliche technische und funktionelle Erweiterungen. Daten-, Software-, Funktions- und Variantenmanagement spielen ebenfalls eine größere Rolle, sowie das Übersetzen der Informationen in bestimmte Sprachen, das Rücksetzen auf Werkseinstellungen und die Systemkalibrierung. Nicht zu vergessen sind die Aufgaben zu Safety und Security.

Für die Nähmaschine bedeutet dies, dass auf Basis von Fehlersuch- und Reparaturalgorithmen Gesprächs- und Supportleitfäden im Kundendienst-Call-Center hinterlegt werden. Die Qualität des Services ist dann nicht mehr davon abhängig, wie viel Erfahrung der jeweilige Support Mitarbeiter hat. Auch der Vorort-Service kann effizienter erfolgen, nicht zuletzt, weil auf Basis der bekannten Daten und Algorithmen der Einsatz von Werkzeugen und Ersatzteilen besser geplant werden kann. Anhand von Wartungs- und Inspektionsalgorithmen können diese Tätigkeiten harmonischer in den Produktionszeitplan beim Anwender eingetaktet werden. Ausfall- und Stillstands-Zeiten werden reduziert und die Produktion insgesamt effizienter.

In der letzten Phase des Recyclings werden diagnostische Methoden in Einzelfällen ebenfalls noch genutzt. Als Beispiel seien hier Algorithmen angeführt, die definieren, wie weit die Nähmaschine zerlegt werden kann und welche Komponenten welcher Anschlussverwendung zugeführt werden.

Die wichtigsten Stationen des Produktlebenszyklus
Die wichtigsten Stationen des Produktlebenszyklus
(Bild: Synostik GmbH)

Fazit: Die Komplexität technischer Systeme mit ihren internen Vernetzungen und Anbindungen an vor- oder nachgelagerte Systeme wird weiterhin stark zunehmen. Damit einher geht eine stetig wachsende Anzahl an Aufgaben und Daten, die nur mit intelligenten Methoden, Algorithmen und Tools bewältigt werden kann.

Die Entwicklung der Systemdiagnostik in der Fahrzeugtechnik in den letzten beiden Jahrzehnten war darauf ausgerichtet, technische Innovationen über den gesamten Lebenszyklus überhaupt erst zu ermöglichen. Die Lernerfahrung hier war, dass der Fokus auf kundenerlebbare Funktionen nicht ausreicht.

Überträgt die Industrie die entwickelten, geprüften und etablierten Funktionalitäten auf ihre technisch hochkomplexen Systeme, so ist zu erwarten, dass sie die Revolution zur 4.0 meistert und sich der Erfolg – vor allem der wirtschaftliche – schnell einstellt. (in)

* Heino Brose, Geschäftsführer der Synostik GmbH

(ID:48572259)