Industrie-Computer Raspberry Pi wird fit für Industrie 4.0
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Der Raspberry Pi ist schon lange bei all denjenigen beliebt, die den Einstieg in die Welt des Programmierens wagen wollen. Nun soll der Einplatinenrechner sein Potenzial für Industrie 4.0-Anwendungen beweisen.

Bei Kontron war es Liebe auf den zweiten Blick: Als sich immer mehr Unternehmen Raspberry Pi als Grundlage wünschten, sah es zunächst nach einer Konfrontation mit bestehenden Angeboten aus. „Oft haben Kunden schon einen Testaufbau ausprobiert und wollten diese Grundlage für die Entwicklung eines industrietauglichen Massenproduktes nutzen. Andere Rechnerplattformen kamen dann nicht in Frage, weil die bereits genutzte Software tatsächlich nur auf Raspberry Pi-Hardware mitgenommen werden kann“, berichtet Holger Wußmann, Managing Director der Kontron Electronics. Statt sich auf einen Glaubenskrieg einzulassen, beschloss der Embedded-Anbieter, die Einplatinenrechner in eine Industrielösung zu verwandeln und in sein Portfolio aufzunehmen.
Schnelle Hardware-Inbetriebnahme
So entstand mit Pi-Tron ein industrielles Baseboard, um die Raspberry Pi-Software-Community nutzen zu können. Das Compute-Modul aus dem Raspberry-Portfolio, das den Mikroprozessor sowie Speicher umfasst, diente dabei als Grundlage. Hinzu kam ein Gehäuse mit der vertrauten Optik der Kontron-Produkte: Zusammen also eine kleine Kompaktsteuerung mit Anschluss für Sensoren und Aktoren. Auch ein für Schaltschrankanwendungen wichtiger 24-Volt-Anschluss ist dabei.
Entscheidend war jedoch das Kühlkonzept, mit dem überhaupt erst der robuste Einsatz in industrieüblichen Temperaturbereichen möglich wird. Denn die Leistungsfähigkeit des Rechners führt zu einer entsprechenden Verlustwärme, die durch das Anbringen von Kühlkörpern an der CPU und deren thermische Kopplung ans Gehäuse aufgefangen wird. So werden Leistungsschwankungen durch das Absenken der Prozessor-Taktfrequenz vermieden. Bei der Bauteilauswahl wurde strikt darauf geachtet, dass nur solche Bauteile eingesetzt wurden, die von der Community-Software unterstützt werden.
Beim ersten Prototyp ging es dann entsprechend anders zu als sonst bei der Hardware-Inbetriebnahme üblich. Während hier Zeitspannen von zwei Wochen gang und gäbe sind, lief die neue Hardware mit dem im Internet zusammengestellten Betriebssystem praktisch auf Anhieb. Pi-Tron setzt den Schwerpunkt mehr in den Kommunikationsfunktionen und findet daher oft als Gateway oder Datenlogger Verwendung.
Schritt in SPS-Welt
Nachdem die Rechte an den Pi-Xtend von Qube Solutions erworben wurden, kam dann diese Produktlinie bei Kontron hinzu. Die Produkte lassen sich für den Einsatz im Schaltschrank per Klemmen auf der Hutschiene unterbringen – was gerade im Maschinen- und Anlagenbau wichtig ist. Pi-Tron dient zum Beispiel als Kommunikationsgateway, Pi-Xtend eignet sich für Steuerungsanwendungen, bei denen Sensorik und Aktorik durch die hohe Anzahl von I/O-Ports integrierbar sind.
Im Automatisierungsumfeld legen Entwickler oft Wert auf SPS-basierte Programmierung. Die integrierte Entwicklungsumgebung Codesys auf Basis von IEC 61131-3 gilt hier als ein Standard für die Applikationsentwicklung. Bei Pi-Xtend ist sie als kostenfreie Testlizenz bereits enthalten. Die Boards gibt es in verschiedenen Ausführungen mit mehr oder weniger Anschlüssen.
Im SPS-Umfeld ist es letztlich eine Philosophiefrage: Wer aus der Raspberry Pi-Welt kommt, entscheidet sich dann gegebenenfalls eher für ein solches Produkt, das als SPS wie ein Kleinrechner mit vielen Anschlüssen für Sensoren und Aktoren fungiert. Entwickler können es zu Testzwecken jeweils zwei Stunden lang nutzen, dann muss neu gestartet werden. So lässt sich alles kostenlos ausprobieren. Steht ein Produktiveinsatz an, kann eine Profilizenz gekauft und aktiviert werden.
Schlankes System – auch für Industrie 4.0
Das Mini-SPS-System mit ergänzenden I/O-Modulen ist eine schlanke Alternative zu den großen SPS-Systemen. Es eignet sich für eine breite Zielgruppe als Baukasten für Automatisierungs- und Schaltschranklösungen, der oft schon 80 Prozent einer Lösung bereitstellt.
Die Erfahrung zeigt, dass die Anforderungen immer individuell sind. Anstatt also den Baukasten aufzublähen, setzt der Embedded-Hersteller auf Anpassungsfähigkeit mit einer sinnvollen Kombination aus CPU, Standard-I/O und individuellen I/O-Modulen. Das spielt gerade auch im Umfeld von Industrie 4.0 eine wichtige Rolle, wo es um die zunehmende Vernetzung von Maschinen und Anlagen in Richtung übergeordnete Systeme geht, aber auch um die Vernetzung mit intelligenten Geräten wie Frequenzumrichtern oder Servo-Reglern.
Für den Industrie-Einsatz gilt es zudem, unterschiedlichste Kommunikationsstandards und -schnittstellen zu unterstützen. Auch bei den Feldbussen geht es Richtung Open Source, auch wenn Profinet dominiert. „Wir haben vielfach mit kleineren Unternehmen zu tun, die es jedoch vermeiden, sich an diesen Standard zu hängen, um mehr Gestaltungsspielraum zu bewahren“, sagt Wußmann. Das auch für harte Echtzeitanforderungen geeignete Ethercat sei gerade im kleineren Mittelstand akzeptiert. Daneben wird auch CAN als Bussystem unterstützt.
Raspberry Pi: Die vierte Generation
Das Compute Modul 4 bringt von Haus aus alle Schnittstellen mit, die heute typischerweise benötigt werden: Dazu gehören Anschlüsse für Ethernet und USB, ein HDMI-Interface für den Monitor, eine DSI-Schnittstelle, um direkt ein Display anzuklemmen, sowie CSI-Interfaces für Kameras. Ein WLAN- und Bluetooth-Modul sorgt auf Anhieb für Connectivity. Sowohl die klassische Bauform als auch das Compute Modul verfügen über einen modernen Broadcom Arm Quad Core Prozessor mit 1,5 GHz. Software kann über eine SD-Karte geladen werden, die auch der Datenspeicherung dient. Als solches ist aber auch die Version 4 zunächst nicht im industriellen Umfeld verwendbar.
Softwareseitig ist das Compute Modul kompatibel zur klassischen Bauform und eignet sich als CPU-Modul für die Realisierung eigener Baseboards. Allerdings hat sich die Raspberry Pi Foundation beim Modul 4 für einen neuen Formfaktor entschieden. Während sich bei der unveränderten klassischen Bauform die Generation 3 einfach durch die Generation 4 austauschen lässt, ist beim Compute Modul eine Kompatibilität zur Version 3 nicht mehr gegeben. Derzeit wird bei Kontron an neuen Produkten auf dieser Basis gearbeitet.
Zwar zeichnet sich ab, dass die Raspberry Pi Foundation die Industrie durchaus als größtes strategisches Wachstumsfeld erkannt hat. Für den Industrieeinsatz sind solche Systembrüche jedoch eher schwer zu verdauen. Denn durch den neuen Formfaktor und das andere Pinning ist das Compute Module 4 von der Hardware her völlig inkompatibel zur Vorgängerversion. „Bisher lässt sich die Raspberry Pi Foundation nicht in die Karten gucken, ob eine Version 5 dann kompatibel zur Version 4 sein wird. Das wäre für die Zielgruppe Industrie jedoch wichtig“, meint Holger Wußmann. Immerhin gebe es bereits Aussagen zur Langzeitverfügbarkeit – auch ein wichtiger Punkt für den industriellen Einsatz.
Fazit: Raspberry Pi als Industrieprodukt überzeugt weder durch einen günstigeren Preis, noch durch bessere Features. Der wichtigste Pluspunkt ist neben seiner universellen Einsetzbarkeit allerdings der vorhandene große Software-Pool. Auf der Gesamtprojektzeitachse entsteht dadurch oft ein wertvoller Zeitvorteil. Das ist vor allem dort essenziell, wo der Innovationsdruck besonders hoch ist und die Plattform gleichzeitig ein Vehikel für eine sehr kurze Time to Market darstellt. „Die vorhandene Software-Plattform ist ein mächtiges Entscheidungskriterium, das lässt sich nicht wegdiskutieren. Es können ganze, fertige Projekte aus dem Internet heruntergeladen werden“, erklärt Holger Wußmann. Für die nächsten drei Jahre geht der Anbieter von einer Verdopplung des Umsatzes rund um Raspberry Pi-Produkte aus.
* Holger Wußmann, Geschäftsführer von Kontron Electronics, Großbettlingen
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