Im Interview: Prof. Jürgen Jasperneite & Prof. Volker Lohweg „Wir raten dazu, die Reise der digitalen Transformation jetzt anzutreten“

Autor / Redakteur: Ines Stotz / Ines Stotz |

Professor Jürgen Jasperneite und Professor Volker Lohweg haben drei Haupttreiber für die Umsetzung von Industrie 4.0 identifiziert. Im Interview mit elektrotechnik AUTOMATISIERUNG haben sie erzählt, wie sie mittelständische Unternehmen auf ihrem individuellen Weg begleiten wollen.

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Die Smart Factory OWL ist das Real-Labor für Industrie 4.0 in Ostwestfalen-Lippe und bietet Unternehmen und Forschungseinrichtungen umfangreiche Dienstleistungen für die Entwicklung und Erprobung neuer Produkte und Technologien für die Fabrik der Zukunft an.
Die Smart Factory OWL ist das Real-Labor für Industrie 4.0 in Ostwestfalen-Lippe und bietet Unternehmen und Forschungseinrichtungen umfangreiche Dienstleistungen für die Entwicklung und Erprobung neuer Produkte und Technologien für die Fabrik der Zukunft an.
(Bild: Fraunhofer IOSB-INA)

Um ihre Technologieführerschaft und Wettbewerbsfähigkeit zu behaupten, müssen Unternehmen die Intelligenz in ihren Produkten und Produktionsverfahren erhöhen und neue Nutzenpotenziale erschließen. Die Redaktion elektrotechnik AUTOMATISIERUNG sprach mit Professor Jürgen Jasperneite, Leiter Fraunhofer Anwendungszentrum Industrial Automation (IOSB-INA) und Professor Volker Lohweg, Leiter des Instituts für industrielle Informationstechnik (inIT) der Hochschule OWL über die aktuellen technologischen Trends und darüber, wie der Technologietransfer in den Mittelstand gelingen kann.

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elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: Was sind gegenwärtig die größten technischen Treiber in der industriellen Automatisierung für Industrie 4.0?

Prof. Dr.-Ing. Volker Lohweg, Leiter des Instituts für industrielle Informationstechnik (inIT) der Hochschule OWL: „Für die Zukunft wünsche ich mir, dass in Deutschland Gewicht auf Bildung und Forschung gelegt wird.“
Prof. Dr.-Ing. Volker Lohweg, Leiter des Instituts für industrielle Informationstechnik (inIT) der Hochschule OWL: „Für die Zukunft wünsche ich mir, dass in Deutschland Gewicht auf Bildung und Forschung gelegt wird.“
(Bild: Centrum Industrial IT)

Lohweg: Ich sehe hier drei Haupttreiber. Das sind Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen, intelligente Sensorik inklusive Bildverarbeitung und den Digitalen Zwilling. Wobei ich den Begriff KI nicht gerne verwende; angebracht ist hier eher der Begriff Maschinelle Intelligenz oder Computational Intelligence mit dem Blick in die Ingenieurwissenschaften hinein. Hier haben wir noch viel Aufbauarbeit in Richtung Interpretierbarkeit von Daten und Lernen auf kleinen Datensätzen in ressourcenbeschränkten Systemen zu leisten.

Ebenso benötigen wir leistungsfähige Sensorik, die applikationsgerecht einfach nutzbar ist. In der Bildverarbeitung erwarten uns hinsichtlich des Umgangs mit komplexen Daten aus 3D-, Multi- und Hyperspektralkameras noch einige Herausforderungen, was Prozessechtzeitfähigkeit angeht.

Der Digitale Zwilling ist sicherlich in der Anwendung das Schlüsselelement für Industrie 4.0. Wir müssen Systeme und Anlagen durchgängig modellieren können.

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elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: Ist dabei Künstliche Intelligenz Hype oder Notwendigkeit in der Produktion?

Lohweg: Künstliche Intelligenz ist kein Hype, sondern Notwendigkeit! Sie wird allerdings zum Hype gemacht, weil sie vermenschlicht wird. Das ist natürlich nicht hilfreich. In erster Linie geht es darum, mit cleveren Algorithmen Optimierungen für technische Prozesse zu finden. Diesen Ansatz verfolgen wir im Übrigen auch im Spitzencluster ‚it‘s OWL – Intelligente Technische Systeme Ost Westfalen Lippe‘ und im BMBF-Projekt ‚it’s ML‘ zusammen mit regionalen Hochschul- und Industriepartnern.

Jasperneite: Wir erleben diese Hype-Themen ja immer wieder. Wichtig ist, dass wir die Frage beantworten können, ob und in welchem messbaren Umfang KI die Produktionsexzellenz verbessern kann. Ich sehe das Potenzial, die Beweisführung ist aber noch nicht abgeschlossen.

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Sie haben mit der Smart Factory OWL den Bau einer Forschungs- und Demonstrationsfabrik für Industrie 4.0-Technologien auf dem Campus in Lemgo initiiert, die 2016 in Betrieb ging. Welche Projekte (beispielhaft) konnten realisiert werden beziehungsweise sind am Laufen?

Prof. Dr.-Ing. Jürgen Jasperneite, Leiter Fraunhofer Anwendungszentrum Industrial Automation (IOSB-INA): „Wir verfolgen das Leitbild einer menschenzentrierten Fabrik.“
Prof. Dr.-Ing. Jürgen Jasperneite, Leiter Fraunhofer Anwendungszentrum Industrial Automation (IOSB-INA): „Wir verfolgen das Leitbild einer menschenzentrierten Fabrik.“
(Bild: Centrum Industrial IT)

Jasperneite: Die Smart Factory OWL ist eine gemeinsame Einrichtung des Fraunhofer IOSB-INA und der Hochschule OWL. Mit ‚Digital in NRW‘ ist es uns beispielsweise gelungen diese als einen wichtigen Knotenpunkt in dem Netzwerk der Industrie 4.0 Kompetenzzentren des Bundeswirtschaftsministeriums zu positionieren. Darüber hinaus sind wir damit in vielen nationalen und internationalen Initiativen (z. B. LNI, IIC) als Transfer- und Testzentrum akkreditiert. Durch die Bündelung der vorhandenen Kompetenzen der Hochschule OWL und des Fraunhofer IOSB-INA sowie weiterer Partner bieten wir eine Anlaufstelle für kleine und mittelständische Unternehmen. Hierbei können sie auf passfähige regionale Angebote entlang der Befähigungskette ‚Informieren – Demonstrieren – Qualifizieren – Umsetzen‘ zurückgreifen, um ihren Weg der digitalen Transformation zu unterstützen.

Auf der anderen Seite nutzen wir diese herausragende Plattform natürlich auch als reale Testumgebung für unsere nationalen und internationalen Forschungsaktivitäten in der Intelligenten Automation.

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: Hat sich die realitätsgetreue Abbildung einer – digitalen – Fabrik genau als der Schlüssel herausgestellt, kleine und mittlere Unternehmen für Industrie 4.0 zu begeistern?

Jasperneite: Absolut! Es geht ja nicht primär darum nur zu begeistern, sondern um das überprüfbare Demonstrieren der Potenziale der Intelligenten Automation. Das können sie nachhaltig nur in der Erlebniswelt der Zielgruppe – produzierende Unternehmen – machen.

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: Smart Factory OWL soll also Unternehmern die Vorteile der Digitalisierung aufzeigen. Wie weit ist hier der Mittelstand in Deutschland? Was raten Sie den mittelständischen Unternehmen?

Jasperneite: Wir wollen nicht nur Vorteile aufzeigen, sondern wir wollen die mittelständischen Unternehmen auf ihrem individuellen Weg begleiten. Da ist es klar, dass ein reines Demonstrieren von spannenden Technologien oder Projekten alleine nicht nachhaltig ist. Daher bieten wir Quick-Checks an, um das einzelne Unternehmen mit seinen Prozessen zunächst zu analysieren und dann einen Fahrplan aufzustellen, an welchen Stellen arbeitsorganisatorische oder technologische Hebel angesetzt werden können. Wir raten dem Management der Unternehmen die Reise der digitalen Transformation anzutreten und nicht abzuwarten. Das hat zuvorderst mit einer positiven Grundeinstellung zu dem Thema und einer Veränderungsbereitschaft zu tun.

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Querschnittsprojekt: Intelligente Vernetzung

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: Das Querschnittsprojekt ‚Intelligente Vernetzung‘ spielt eine zentrale Rolle innerhalb der Innovationsprojekte, die dann bei kleinen und mittelständischen OEM zum Einsatz kommen. Können Sie ein Beispiel für einen erfolgreichen Ergebnistransfer nennen?

Jasperneite: In der Vernetzung geht es fast immer um interoperable Standards. Mit herstellerspezifischen Lösungen kommen sie hier nicht weiter, weil damit kein Absatzmarkt für die Unternehmen entsteht. Daher fokussieren wir in diesem Feld stark auf die Mitgestaltung relevanter Standards und dem Wissens- sowie Technologietransfer. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Thema OPC-UA. Hier haben wir bereits 2013 den kleinsten OPC-UA Server entwickelt und somit die Skalierungsfähigkeit dieses Standards nachgewiesen. Wir bringen uns in verschiedene OPC-Aktivitäten ein und können heute KMUs bei der Implementierung dieses wichtigen Industrie 4.0-Bausteins unterstützen.

Lohweg: Im Bereich der Informationsfusion konnten wir Ergebnisse erfolgreich in Industrieprojekte mit regionalen und überregionalen Partnern einbringen. Insbesondere wurde das entstandene Know-how dazu genutzt, weitere Projekte zu akquirieren und in weitere Branchen wie Lebensmittelindustrie oder auch Health Sciences auszurollen.

BUCHTIPPOhne eine herstellerunabhängige Vernetzung von Geräten und Anlagen ist Industrie 4.0 nicht umsetzbar. OPC UA ist genau dafür konzipiert – doch der Einstieg ist nicht immer einfach. Das Fachbuch „Praxishandbuch OPC UA“ hilft weiter.

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: Auf der letzten SPS IPC Drives verkündete die OPC Foundation, dass sie unter ihrem Dach OPC UA/TSN bis in die Feldgeräte-Ebene vorantreiben wollen. Zahlreiche große Automatisierer haben sich der Initiative bereits angeschlossen. Wie bewerten Sie das?

Jasperneite: Das ist eine ernstzunehmende Initiative, insbesondere vor dem Hintergrund, dass OPC-UA als ein Kernstandard der Industrie 4.0 angesehen wird. Aus meiner Sicht wird OPC-UA/TSN zunächst als Integrationsplattform für die bestehenden Feldbus- und Echtzeit-Ethernet Installationen Sinn machen.

Living Labs: Smart Factory OWL / Lemgo Digital

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: In den sogenannten Living Labs gehen Sie auch der Frage nach, wie man den Nutzer noch stärker in den Innovationsprozess involvieren kann, um nützliche und benutzbare Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln. Wie funktioniert das und wie erfolgreich läuft das Projekt?

Jasperneite: Das ist ein spannender Themenbereich. Es stellt sich die Frage, ob der derzeitige Prozess bei der Gestaltung von technischen Produkten und Dienstleistungen nicht durch eine viel stärkere partizipative Technologiegestaltung profitieren kann. Dabei geht es um viel mehr Dialog der relevanten Stakeholder in allen Phasen der Produktentwicklung, Produktion und Nutzung. Das ist allerdings zunächst ein erheblicher Mehraufwand für die Unternehmen, kann aber zu passfähigeren Produkten und Marktakzeptanz führen. Reallabore, wie die Smart Factory OWL, sind dafür mögliche Plattformen. Bei der digitalen Transformation von Städten haben wir mit dem Reallabor LemGO Digital schon einige Erfahrungen in diesem Bereich gemacht.

5G – in der Hand behalten!

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: 2019 soll es mit der Frequenzversteigerung für das 5G-Netz losgehen. Es gilt als Türöffner für Smart Factory und Industrie 4.0. Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie dabei?

Jasperneite: 5G ist eine spannende Weiterentwicklung in der Mobilfunkkommunikation. Wir müssen jetzt aber aufpassen, dass dies nicht als Allheilmittel für alles Mögliche angesehen wird. Im Bereich des Handlungsfeldes der Smart Factory sehe ich einige Anwendungsfälle, in denen die in Aussicht gestellten Merkmale interessant sein können. Hierzu gehören insbesondere mobile, temporäre oder weiträumige Anwendungen sowie VR-Anwendungen, die den Servicebereich deutlich verbessern können. Wir sind in einigen Projekten involviert, bei denen die Nutzung von 5G in der Industrie untersucht wird.

Lohweg: 5G ist die Voraussetzung für praktisch alle schnellen, verteilten Echtzeitprozesse in diesem Kontext. Autonomes Verhalten von Maschinen und Anlagen, die geographisch verteilt sind, ist zukünftig ohne 5G kaum möglich. Herausforderungen sind neben technischen Fragestellungen aus meiner Sicht politischer Natur. Wir müssen einen klaren Blick auf die Notwendigkeiten der Anwendung und der IT-Security haben. Wir sollten uns auch nicht aus der Hand nehmen lassen.

Leitbild: menschenzentrierte Fabrik

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: In den letzten Jahren waren viele Projekte vor allem technologisch geprägt. Immer mehr Menschen fragen sich, wie die Arbeitsbedingungen in der Fabrik von morgen aussehen werden. Werden diese Themen miteinbezogen? Auf welche Weise?

Jasperneite: Wir verfolgen das Leitbild einer menschenzentrierten Fabrik. Daher geht es um die intelligente Gestaltung der Schnittstellen zwischen Mensch, Technik und Organisation. Hier arbeiten wir in verschiedenen Projekten, zum Beispiel im Spitzencluster it‘s OWL oder im EU-Projekt RiConfigure, an der aktiven Einbeziehung der verschiedenen Akteure, wie Werker, Gewerkschaften und Instandhalter, zur Gestaltung der Arbeitswelt in der Produktion.

Lohweg: Ohne das Einbeziehen von Menschen und ihre Arbeits- und Lebensumgebungen wird Digitalisierung nicht möglich sein. Viele Unternehmen, aber auch Politik und Gewerkschaften sind in Prozessen, die wir als Arbeit 4.0 bezeichnen eingebunden. Wir beraten diesbezüglich auch die Akteure.

Die Währung der Zukunft wird Bildung sein.

elektrotechnik AUTOMATISIERUNG: Sie haben einmal gesagt, Sie haben das ‚Dickbrettbohrer-Gen‘. Welche dicken Bretter wollen Sie mittelfristig bohren und was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Jasperneite: Ich habe festgestellt, dass bei vielen Akteuren im Innovationsprozess eine Kultur der Konjunktive – wie hätten, könnten, müssten – entwickelt hat. Frei nach dem Motto ‚Making is the new Thinking‘ müssen wir jungen Menschen vorleben, dass es für die erfolgreiche Umsetzung einer Vision oder Idee immer mehr darauf ankommt auch Aufgaben anzugehen und zu erledigen, die vielleicht nicht so viel Spaß machen und für die man formal auch nicht zuständig ist. Dazu gehört beispielsweise das vertiefte Auseinandersetzen mit bestimmten Fachgebieten, aber auch das aktive Management der Organisationsgrenzen. Das erfordert einen langen Atem, Beharrlichkeit und viel Überzeugungskraft.

Lohweg: Um dicke Bretter zu bohren, benötigt es immer scharfe Bohrer. Dadurch, dass sich das Fraunhofer IOSB-INA und das inIT strategisch exzellent positioniert haben, werden wir für die Themenkreise Digitalisierung, Industrie 4.0 und intelligente technische Systeme auch zukünftig eine wichtige Rolle spielen. Wir gehen davon aus, dass wir unsere Ergebnisse auf weitere Anwendungsbereiche und Branchen ausweiten werden. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass in Deutschland Gewicht auf Bildung und Forschung gelegt wird. Nur so können Menschen informiert sein und sich optimal qualifizieren. Die Währung der Zukunft wird Bildung sein.

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